Nürnberger Lyriker:in über politische Poesie, Nonbinarität, Dichtung & Werbung
Was IST Lyrik – was könnte sie (in meinen Augen) sein? Ich durfte zur Eröffnung des Lyriktags in Lohr 2022 eine Festrede halten. Hierfür wurde mir die These „Lyrik ist ein Destillat der Gegenwart“ aufgetragen, mit der ich mich auseinander zu setzen hatte.
Ein weiterer, etwas älterer Versuch, Dichtung zeitgemäß zu verorten, findet sich hier, als Statement zu einer von Dieter M. Gräf eröffneten „Lyrik-Konferenz“:
Welche Rolle spielt Nichtbinarität (geschlechtliche Uneindeutigkeit) für mich und meine Kunst?
Eine wachsende und zunehmend politische. Mir geht es um Sichtbarkeit – obwohl es mir nicht leicht fällt, einen Persönlichkeitsaspekt in die Öffentlichkeit zu tragen, der mit Intimität zu tun hat. Es geht mir um die Freiheit, selbst bestimmen zu können, wer oder was ich bin – ohne andere einzuladen, mir dies auf übergriffige Weise abzunehmen.
„Gendergaga“: Warum ist „Geschlecht“ politisch?
Die Vorstellung, dass biologische Geschlechtlichkeit (was auch immer dies sei) und soziale Geschlechterrolle eine untrennbare Einheit bilden, ist eine Norm, keine Naturgegebenheit. Sie wurde über Jahrhunderte zementiert, um patriarchale Machtverhältnisse zu festigen. Wenn Geschlecht nicht als Spektrum gedacht werden darf, bedeutet das vor allem eines: Kontrolle. Wer als „Mann“ geboren wird, soll stark sein, wer als „Frau“ geboren wird, sich fügen.
Wer außerhalb dieser Kategorien existiert, bringt das System ins Wanken. Denn jede starre Ordnung wird durch Ambivalenz herausgefordert. Wer nicht-binär lebt, macht sichtbar, dass Identität nicht zwangsläufig mit biologischen Merkmalen zusammenhängt, sondern gestaltbar ist. Das wirkt auf einige beunruhigend – als sei allein die Existenz von Geschlechtervielfalt eine Bedrohung. Dahinter steckt vielleicht die Angst, gewohnte Sicherheiten zu verlieren.
Wie ich als Lyriker:in Nonbinarität und Genderqueerness verstehe
Komplexität zuzulassen bedeutet Freiheit. So, wie sich Sprache, Kunst, Technik und Gesellschaft ständig weiterentwickeln, so tun es auch unsere Identitäten. Ich habe mich nie in einer klassischen Männerrolle wiedergefunden. Aber auch nicht in einer Frauenrolle. Wer also bin ich? Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage ist kein Spleen: Es geht um das Recht, selbst zu definieren, wer du bist – ohne sanktioniert zu werden.
Das spiegelt sich auch in meiner Lyrik: das Bedürfnis, gewohnte Strukturen zu hinterfragen. Sei es in der Sprache, im Klang, in performativen Formaten – oder eben in der Art, wie ich mich als Künstler:in präsentiere. Nichtbinarität ist für mich kein „Trend“, keine bloße Selbstbeschreibung, sondern ein radikales Bekenntnis zur Offenheit. Eine Liebeserklärung an die Vieldeutigkeit. Komplexität als schöpferische Praxis und Urkraft des Lebens.
Wie politisch ist meine Lyrik?
Gesellschaften in der Krise: Wenn Psychopathen aufsteigen
Ob in Russland, den USA oder Europa: Wenn demokratischen Strukturen geschwächt oder kaum vorhanden sind, steigen toxisch-narzisstische Egos besonders leicht nach oben. Wer keine Skrupel, keine Wahrheit, keine Werte kennt, kann manipulierend, rücksichtslos und unberechenbar agieren. Demagog:innen operieren mit Spaltung und Manipulation – und sie arbeiten oft Hand in Hand mit der Fossilindustrie.
In vielen historischen und aktuellen Fällen sind es hochgradig destruktive Persönlichkeiten, die so an die Macht gelangen. Ihnen zuzusehen, ist wie ein kollektives Trauma: Sie zerstören Demokratie, Zivilgesellschaft und planetare Lebensgrundlagen – und tun dies mit unfassbarem Gewinn für sich selbst.
Psychopathriarchat & Fossil-Faschismus
Machtmissbrauch, Klimazerstörung und Faschismus greifen „wie geölt“ ineinander. Autoritäre Kräfte und die Fossilindustrie verfolgen ein doppeltes Zerstörungswerk: Sie unterminieren Demokratie und Menschenrechte – und beschleunigen gleichzeitig den ökologischen Kollaps.
Ihr Zerstörungswerk ist nicht nur militärischer Natur. Der eigentliche Krieg wird längst um Köpfe geführt – oder vielmehr: um Bauchgefühl und Kleinhirn. Gesellschaftliche Spaltung ist dabei die stärkste Waffe. Hiergegen müssen wir aufrüsten – eben nicht nur konventionell, sondern vor allem im Informationskrieg, in der digitalen Gegenwehr, in der psychologischen Resilienz gegen Demagogie. Die Zivilgesellschaft muss hierfür dringend gestärkt (nicht kleinkariert hinterfragt) werden: Neben Panzerabwehrdrohnen und IT-Sicherheit braucht es Kunst, Kultur, Achtsamkeit und starke soziale Strukturen – darunter auch Organisationen wie „Greenpeace“, „Correctiv“ oder „Omas gegen Rechts“.
Lyrik zwischen Planetaren Grenzen
Meine literarische Auseinandersetzung mit dem drohenden Kollaps begann lange vor dem heutigen Krisenbewusstsein. Spätestens seit meinem zweiten Lyrikband „panik · blüten“ zieht sich diese Thematik durch mein Werk. „JUMP ‘N‘ RUN“ warnt zwischen den Zeilen vor dem Irrglauben, Technik wäre die große Krisenlöserin (in Wirklichkeit ist sie eine Krisenverursacherin).
In „VENUS–MARS“ verweise ich explizit auf die Planetaren Grenzen – neun ökologische Kipppunkte, von denen wir bereits sechs überschritten haben. Die unkontrollierte Freisetzung neuer (chemischer) Stoffe und das Artensterben sind zwei bereits irreversibel überschrittene Grenzen, deren Bedrohung noch weniger im öffentlichen Bewusstsein steht als die Klima-Überhitzung. Jede deutliche und längerfristige Grenzüberschreitung birgt eine massive Gefährdung der menschlichen Zivilisation.
Meine Kunst ist keine Message – aber eine Form von Antifaschismus.
Lyrik ist für mich kein Werkzeug der Agitation. Ich schreibe keine Gedichte, um Botschaften zu transportieren. Aber Kunst ist nicht ohne Haltung zu haben. Und in Zeiten wie diesen kann und soll Haltung auch explizit werden.
Faschismus ist mit Kunst und Intellekt unvereinbar. Das macht Künstler:innen und Intellektuelle zu den ersten, die unter einem reaktionären Rollback leiden. Wir sind das gesellschaftliche Frühwarnsystem – und unser Alarm schrillt schon lange: Wenn wir den Faschismus nicht gemeinsam zurückdrängen, werden Kunst und Gesellschaft sterben.
Darf ein:e „Dichter:in“ für sich werben?
Werbetext-Kund:innen zu erklären, was ihnen ein:e poesiebegabte:r Texter:in bringt, ist eine bisweilen dankbare Aufgabe. Aber umgekehrt?
Profitieren Gedichte etwa von Werbung?!
Die Zweitverwerter:innen der Poesie (zu denen neben den Werbefachleuten auch die „Lyrics“-Songwriter:innen gehören) treiben die Dichter:innen an, Sprache ständig neu zu „(er)finden“ und den kommerzialisierten Mainstream hinter sich zu lassen. Wären Kommerz und Propaganda weniger skrupellos in der Aneignung von „poetischer“ Sprache – vielleicht wäre gegenwärtige Dichtung langweiliger, berechenbarer, gereimter und verständlicher.
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Für eine:n Künstler:in ist es anrüchig, zu dicht neben „Werbe-Spezialisten“ zu stehen. Ganz zu schweigen von einer Personalunion: Werbetexter bzw. Kommunikationsberater – passt das zu einem „anständigen Poeten“? Nun, wenn ich damit das verklärte Bild vom freiwillig darbenden Dichter aus dem Goldrahmen stieße, hätte ich da kein schlechtes Gefühl dabei.
Auch ein:e Nürnberger Lyriker:in kennt die spießbürgerliche Sehnsucht nach gesicherter Existenz. Warum sollte ich so tun, als könnte ich von mageren Auflagen bei Gedichtbänden, von gelegentlichen Preisen und Stipendien auch nur annähernd leben – als wäre „Dichter:in“ ein Berufsbild? Und wenn selbst dies noch wie Werbung für mich als kunsttreibende Person klingt, dann ist das nichts weiter als ein Versuch jener beiden Pole in mir … ja wofür? Zur beidseitigen Vershöhnung!
Warum ich auch für „Lyrik“ in „Nürnberg“ stehen möchte
Natürlich möchte ich gefunden werden, wenn jemand nach „Lyrik“ aus „Nürnberg“ sucht – weil ich den Anspruch habe, eine Stimme tatsächlich der Gegenwartslyrik in meiner Heimatstadt (und darüber hinaus) zu sein. Weil ich möchte, dass unter „Gedichte aus Nürnberg“ mehr als Mundart, Kalenderspruchlyrik oder besinnliche Reisepoeme zu finden sind. Warum nicht „Ottonormalbürger:innen“ mit gegenwärtigen Experimenten der Sprachkunst konfrontieren, auch mal lokal verortbar?
Glaubte ich aber, für meine Gedichte Werbetexte schreiben zu müssen, wäre ich als Lyriker:in gescheitert. Daher der hemmungslose Gebrauch von Testimonials: Wie wird diese:r „Nürnberger Dichter:in“ von anderen wahrgenommen, wie Schloyersche Gegenwartslyrik rezipiert?
Metamorphose und Forschungsbericht, Krückenspiel und formvirtuose Beschwörungen
Schloyers Schreiben ein sanftes Wüten (…) eine Stellungnahme – intellektuell wie fühlbar – als poetische Stellungnahme, weil die Form mit den Inhalten verbleibt – als politische Stellungnahme, weil Sprache Sprache dort entlarvt, wo das Alltägliche tänzerische Leichtigkeit hat und doch den exakten Schritt des Maßes, der Metrik, des Ungebändigtseins: Stellungnahmen als Bewegungen offen definiert.
Tübinger Stadtschreiberstipendium für Lyrik, 2017
Die philosophisch grundierten Gedichte Christian Schloyers entwachsen einer doppelten Verunsicherung: durch die reflexive Zersetzung und mediale Entfremdung des Subjekts und durch die zivilisationsbedingte Verheerung unserer Welt; als formvirtuose Beschwörungen suchen und schaffen sie Momente authentischer Bezugnahme: auf ein Du in der Liebe, auf Natur oder Umwelt in einer Empathie mit ihrer Zerstörung und auf die Leser durch die Prägung von Sprachformen, die uns diese Erfahrungen bewältigen helfen.
Bayerischer Kunstförderpreis für Literatur, 2013
Seine Gedichte sind nicht immer leicht zu verstehen, aber die meisten von ihnen sind echte Sprachkunstwerke, die von einer großen Meisterschaft zeugen. Christian Schloyer schlägt in der Gegenwartslyrik einen ganz eigenen, unverwechselbaren Ton an, der den Wörtern neue Bedeutungs- und Assoziationsräume öffnet.
Förderpreis zum August-Graf-von-Platen-Literaturpreis, Ansbach 2011
Das Zauberwort! Schön wärs! Schloyer kehrt immer wieder zur Erkenntnis der Unmöglichkeit des Zauberworts zurück – und zieht seine Spieluhr doch auch immer wieder neu auf. Die Gedichte bewegen sich leicht, grazil, tänzerisch, eben spielerisch – aber sie sind im Gegensatz zu Eichendorff alles andere als eingängig. Weil sie als Zeugnisse der sprachkritischen Moderne (…) über die simple Sprachlogik, das naive Bedeutungs- und Zweckhafte der Sprache, hinwegzukommen versuchen, stecken sie zwar voller Überraschungen – kühnen Assoziationen, leichtfüßigen Gedankensprüngen, paradoxen Bezügen. Aber am Ende muss Schloyer doch bekennen – auf dem Weg zum Urmeer unseres Bewusstseins bleibt sein Sprach-Spiel nur ein stammelndes ‚krückenspiel‘.
Kulturförderpreis für Literatur der Kulturstiftung Erlangen, 2009
Christian Schloyer gelingt es überzeugend, aus der Formensprache der modernen Poesie ein eigenes Idiom zu formen. Er löst klassische Bildlichkeit auf in ein Spiel von Perspektiven und Funktionszusammenhängen. Seine Gedichte sind starke Wortartefakte, die ganz für sich stehen.
Literaturwettbewerb Wartholz, Reichenau a.d. Rax (Österreich) 2009
In stark gegliederten, zäsurenreichen, aber metrisch-motivisch verdichteten Versen schafft sich der Autor eine sinnfällige Form für seine Spurensuche. Im ersten Zyklus gilt sie dem Nachweis noch vorhandener Ursprünglichkeit in unserer kulturell überformten Lebenswelt und im zweiten Zyklus in gesteigerter Intensität der Suche nach einer natürlichen Urschrift. Mit der Brechung des zeitgenössischen Blicks auf Natur durch den der Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts sichern sich die Gedichte ihren Reichtum und Rang als poetisch-naturgeschichtlicher Forschungsbericht.
Leonce-und-Lena-Preis, Darmstadt 2007
Poesie als Sprachüberraschung, als Metamorphose von Ich und Wahrnehmung, als Verpuppung und Entkleidung, Poesie als schöner Schein des Alles-mit-allem-Verbindens, wie es schon Novalis forderte, nämlich: die Welt zu poetisieren – und dann die plötzliche Erkenntnis, dass es genau auch so zusammengehört, dass eben doch noch nicht alles gesagt ist.
Open Mike, Berlin 2004